von Rolf Gustav Haebler+
Siehe: ein offenes Buch! Was soll mir bedrucktes Papier? Blätter, die andere beschrieben? Gedanken, die andere gedacht? Leben, das andere gelebt?
Ich lob mir das weiße Blatt im offenen Buch, bereit, mich zu empfangen. Auf dieses Blatt will ich mein Leben schreiben. Doch sei vorsichtig, mein Bruder: noch ist die helle Fläche wie Schnee, der auf den Bergen liegt. Jede Spur, die du gehst, ist gefesselt an dies Buch und kein Frühling schmilzt sie weg. Denn siehe: hier ist ein Spiegel, dessen Bild nicht erlischt. Der Blätter sind viele und die Jahre blättern ihre Schicksale und sie liegen aufeinander wie Schichten der Gesteine aus Jahrtausenden her.
Bist du ein Stein oder zerbröckelt Dein Blatt wie Sand und verflattert wie Staub vor dem Wind? Die Schrift Deines Blattes allein ist wie Urgestein, das nicht bröckelt und das kein Regen wegschwemmt.
O Bruder: aller Erkenntnis offen liegt Dir das Buch und ist doch leere Fläche, so Du nicht einzeichnest den heiligen Namen des Gottes, der in Dir lebt. Merke Dir das, mein Bruder!
Quellennachweis:
Aus „Das neue Freimaurertum“, Heft 2, 22. Jahrgang der „Sonnenstrahlen“, 1928 (Zeitschrift des FzaS)
Anmerkung der Redaktion: Die Mitgliedslogen des FZAS legten nicht, wie in Logen der „regulären“ Freimaurerei üblich, die Bibel auf einem Altare auf, sondern ein Buch mit unbeschriebenen Seiten auf dem Meistertisch. Es wurde das „Buch der Erkenntnis“ (oder auch „das offene Buch“ oder „Weisheitsbuch“) genannt. Dieses Symbol sollte mahnen, vorsichtig zu sein, beim Niederschreiben von Gedanken, da das geschriebene Wort – etwa wie bei sog. „Heiligen Büchern“ (Bibel, Thora, Koran etc.) – über Jahrtausende Wirkung entfalten und Ströme vom Blut über die Menschheit bringen kann. Menschen töten Menschen, weil es ja geschrieben steht, dass …
Außerdem war das Buch der unbeschriebenen Seiten auch eine Mahnung an die Demut vor den aktuelleren Erkenntnissen späterer Generationen. Immer schon wurde für sicheres Wissen Geglaubtes oft in binnen des eigenen Lebens durch neue Erkenntnisse widerlegt. Zudem verdoppelt sich menschliches Wissen inzwischen rasant in immer kürzeren Abständen.
Diesen Umständen wollten die Gründer des FZAS und die Brüder unserer Loge „Zur Wahrheit“ als Mutterloge des FZAS mit dieser abweichenden Symbolik gerecht werden.
Das in FZAS-Logen aufgelegte Buch der Erkenntnis ist nicht identisch in seiner Bedeutung mit dem sog. „Weißen Buch“, das vor allem in Logen der Großloge „Zur Sonne“, Bayreuth als Bibelersatz aufgelegt wurde. Dieses hatte einen weißen Einband mit der Aufschrift „GOTT“ auf dem Buchdeckel und war im Inneren ebenfalls unbeschrieben. Es war somit eine Reminiszenz und ein Platzhalter für alle heiligen Bücher. So konnte jeder Bundesbruder sich in diesen Platzhalter das ihm oder seiner Religion entsprechende Heilige Wort hineindenken. Solche Gedanken waren dem aus der monistischen Bewegung erwachsenem FZAS stets fremd.
Der Loge „Zur Wahrheit“ wurde in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts der Eintritt in die „Regularität“ dadurch erleichtert, dass sie zwar – um den Basic principles gerecht zu werden – auch die Bibel auflegen musste, aber ihr Buch mit den unbeschriebenen Seiten zusätzlich nutzen durfte. Um nun aber einer der Freimaurerei wesensfremden, dualistischen Wirkung entgegen zu wirken und einen freimaurerischen Dreiklang zu erreichen, wurde das Notenwerk der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven als drittes Buch hinzugenommen. Zusammen stehen die drei Bücher nun als Symbole für das Wahre (Buch der Erkenntnis), das Schöne (9. Symphonie) und das Gute (Bibel).