Weisheit, Stärke, Schönheit

von Br. Theodor Vogel

In der heraufziehenden Dämmerung hasten die Menschen der großen Stadt nach Hause. Klarer Himmel hat dieser winterlichen Zeit einen Sonntag geschenkt, aber auch die Sorge, dass eine schlimme Nacht folgen würde: Solche Sternennacht nutzte der Feind zu den Einflügen und Bombenangriffen.

So erleben wir wie anderwärts und immer wieder schon in den ersten Abendstunden das Unheil: Luftgefahr, schwere Bomber im Anflug von der Nordseeküste her auf Berlin, Vorwarnung, Luftalarm! Wir drängen uns mit den anderen: Frauen, Kindern, Urlaubern, Greisen, in den Luftschutzraum. Wir suchen uns in den spärlich nur erleuchteten Kellern eine Ecke und kauern uns, zusammengewürfelte Menschenkinder, wie von ungefähr und Zufall zusammengewürfelt, auf die Bänke. Kinderweinen und Raunen und Schluchzen, Flüstern und Zorn und unhörbares Beten ist unter den Hunderten, die sich hier gefunden haben und angstvoll begehren, dass es diese Nacht gnädig mit ihnen machen möge.

Wir wissen, dass nun da oben in den Lüften die schweren Maschinen ihre tödliche Last herantragen, dass ihr Dröhnen die Lüfte füllt, wir wissen – auch wenn wir es nicht sehen –, dass Feuer vom Himmel regnet, Ziel und Bezirk des Angriffes sorgsam absteckend. Wir hören das Heulen, die Abschüsse, die Bombeneinschläge, näher und näher kommend. Wir fühlen, dass das Unheil unerbittlich seinen Weg auf uns zu nimmt. Und wir beugen uns alle, sorgende, leidende Kreatur, Spielball des Schicksals und des schrecklichen Krieges der Männer gegen das Leben.

In dieser Stunde erlischt das Licht.

Der Strom, der den hausenden und sorgenden Menschen dient, der auch in der Zeit des Mordens und Tötens Wärme und Leuchten gibt, ist ausgefallen. Wir sind im Zentrum des Angriffs. Mit dem Dröhnen draußen, den Schlägen, die die Grundfesten erschüttern, mischt sich die schreckliche Verzweiflung der Geschöpfe, die nicht mehr schreien können, nur noch sich beugen, sich erniedrigen, warten, leiden in dieser Stunde ohne Hoffnung, ohne Zuspruch, ohne Licht sogar.

Da geschieht es, dass unter den vielen ein Mensch – wir sehen später, dass es ein alter Mann ist – aus seinem Mantel einen Kerzenstummel kramt und entzündet. Sogleich schützt er ihn mit der Hand, drängt er sich aus dem Hintergrund vor, dorthin, wo ein kleiner, freier Raum ist in den Kellern. Dort setzt er auf dem steinigen Boden, stumm nur etwas Platz erbittend, den Kerzenstummel nieder und spricht klar und deutlich ein merkwürdiges Wort:

„Weisheit … !”

Die schluchzenden, geängstigten Mensch rings um ihn horchen auf. Es beginnt stille zu werden. Es ist, als ob in diesem Augenblick Gott gerufen worden sei, ohne dass sein Name genannt ist, angerufen nicht mit Gebet, nicht um Hilfe, nein, nur gerufen.

Und es geschieht, dass in dieser Stille, in der kaum mehr die dumpfen Einschläge der Bomben vernommen werden und dunkle Schatten an den Wänden zittern, ein anderer alter Mann aus dem Hintergrund vortritt. Auch er trägt in seinen Händen einen Kerzenstummel. Er beugt sich unendlich langsam hinunter zu dem ersten, dem brennenden Licht, entzündet daran das seine und setzt die nun leuchtende kleine Flamme neben die andere auf den steinigen Boden, ein zweites merkwürdiges Wort in die Stille hinein sprechend:

„Stärke …!”

Die Menschen horchen auf, mehr noch als vorher: Bis in die hintersten Winkel dringt dieses Wort, das wiederum kein Schreien um Hilfe, kein Bitten an den Gewaltigen oder Allmächtigen ist, nur ein Ruf, vielleicht nur ein Ruf an die Menschen, ein Ruf an sich selber, ein Bekenntnis zu Würde und Haltung, ein großer Trost an die Schwachen und Verlassenen.

Ein Aufschluchzen ist und wie ein Aufatmen geht es durch die Gebeugten und Kauernden, die sich fremd sind in dieser Stunde, aus allen Winkeln und Ecken in diesem Keller zusammengetrieben, fremd einander und nun doch irgendwie einander zu bewegt.

Und es geschieht abermals, dass aus der Mitte der Menschen ein dritter Mann sich löst, jünger etwa als die beiden vor ihm, auch gebeugt und dennoch ihnen gleichend, tröstend, aufrichtend wirkend – so, als wollte er sagen: Brüder und Schwestern, fürchtet Euch nicht, das Licht kehrt ja doch zu Euch zurück! – und hat wie die beiden anderen eine Kerze zur Hand, beugt sich nieder, um sie an der zweiten entzünden, setzt sie auf den steinernen Grund und spricht das dritte, merkwürdige Wort in die beinahe atemlose Stille hinein:

„Schönheit …!”

Aber obgleich wiederum Gott nicht angerufen ist, kein helles, großes Leuchten in den dämmrigen Kellern ist, nur Schatten und Flackern der drei kleinen Flammen und Schüttern der letzten Bombeneinschläge von draußen, verklärt sich der Raum dennoch und weht durch ihn der Dreiklang:

„Weisheit … Stärke … Schönheit …”

Ich weiß nicht, was meine Nachbarn und die Menschen um mich empfinden. Ich kann es nur spüren daran, wie es mir selbst im Herzen warm und in den Augen feucht wird. Ich höre Schluchzen, aber nicht das Weinen der Angst, sondern der Befreiung. Ich sehe, wie andere sich die Augen reiben, erschüttert sind, von einer inneren Kraft bewegt werden, dem Nachbarn zur Linken und Rechten die Hand geben. Und eine Kette läuft durch die Hunderte, von jenem seltsamen Dreiklang angerührt und aus der Gottesferne und menschheitsferne zurückgerufen zu eigenen Würde.

Die drei Männer, von denen die Kerzen und die Lichter stammen und die ein paar Atemzüge lang einander zugeneigt gewesen sind, lösen sich. Sie sehen sich an, nicken sich zu. Merkwürdig,
wie sie sich ähnlich sind in Haltung und Geste, in Gruß und Ernst und Verstehen. Und noch da sie zurück in die Kolonne treten, um dort unterzutauchen, nun den anderen gleich werdend, bleibt von ihnen etwas in den Hunderten, den fremden, den zufällig zueinander Gescharten zurück:

Nicht Frömmigkeit, nicht Gottesdienst, nicht heiße Ergriffenheit – ein tieferes Gefühl noch als Dankbarkeit und Hingegebenheit an die Götter und das Schicksal: ein brüderliches Gefühl! Eine Gewissheit, dass der Mensch zu keiner Zeit seines Lebens, nicht in den schlimmsten Stunden der Nacht, nicht im Dröhnen des Weltuntergangs, nicht in der Gottverlassenheit allein und einsam zu sein braucht, wenn er den anderen im Leid und Glück nicht fremd, sondern brüderlich verbunden ist. So gestärkt und getröstet, so stark und voller Trostverlassen wir den dunklen Keller, da die tödliche Gefahr von den Himmeln beendet ist und wir in die Nacht und unsere Stuben zurückkehren dürfen. Und auch die, welche den Zusammenhang der drei Worte von der Weisheit, der Stärke und der Schönheit nicht verstanden haben, sind dennoch angerührt und haben jenen uralten, Jahrtausende alten Brudergruß empfunden, den die nun suchen werden zeit ihres Lebens, die in dieser Welt nie mehr einsam leben möchten!

Aus: „Brüderliche Spur der Jahrtausende”, von Theodor Vogel – Bauhüttenverlag 1962

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